Am 23. März 2022 lud das Forum Rathenau bereits zum fünften hybriden Carbon Cycle Culture Club (C4) ein. Dieses Mal diskutierten Fachexpert:innen über Perspektiven für „Zucker als Baustoff“. Das Event wurde im Rahmen des Strukturwandelprogramms des Landes Sachsen-Anhalt und in Verbindung der Initiative für ein Neues Europäisches Bauhaus initiiert.
Braunkohle und Zucker sind eng verknüpft
In der Stadt Zeitz hat Zucker Tradition. Seit über 160 Jahren produziert man hier im industriellen Maßstab Rübenzucker. Zudem ist Zeitz Modellstadt für einen gelungenen kulturellen, wirtschaftlichen und ökologischen Strukturwandel, der aktuell im Rahmen des Sachsen-Anhalt Projekts des Neuen Europäischen Bauhauses voran getrieben wird. Der fünfte C4 verbindet deshalb das ehemalige Kraftwerk Zschornewitz digital mit dem Podium in der ehemaligen Brikettfabrik Herrmannschacht in Zeitz. “Wir sind zurzeit im Zentrum der Zuckerherstellung. Um uns herum wird Zucker in Wagen und LKWs transportiert“, beschreibt Moderator Professor Ralf Wehrspohn den außergewöhnlichen Veranstaltungsort des C4: Das Revierhaus des Industriedenkmals Brikettfabrik Herrmannschacht in Zeitz. Ein Museum inmitten des Industriestandortes der Südzucker AG, das vom Verein Mitteldeutscher Umwelt- und Technikpark e.V. (MUT) betrieben wird. Der Verein MUT möchte die über 300-jährige Industriegeschichte in Zeitz lebendig halten. Die Verbindung zwischen Braunkohle und Zucker bestand nämlich von Beginn an, wie MUT-Vorstandsmitglied, Tony Saar, erläutert: „Der erste Direktor der Zuckerfabrik Zeitz, Richard Herrmann, war auch Gründer der Brikettfabrik“.
Zeitz – einer der spannendsten Orte im Strukturwandel
„Wir sind hier in Zeitz, weil es auf der Hand liegt […]. Wir sind in einer Stadt mit einer unglaublich reichen Historie und einem tiefen, erschütternden Strukturbruch in der Wendezeit“, sagt Dr. Franziska Krüger, Leiterin der Stabsstelle „Strukturwandel im Mitteldeutschen Revier“. Es besteht nun die einmalige Chance, die Stadt wieder neu zu erfinden und innovativ zu gestalten. Gerade mit einer Partnerschaft wie dem Neuen Europäischen Bauhaus (NEB) kann ein ganzheitlicher und nachhaltiger Strukturwandel umso besser gelingen. Nach weniger als einem Jahr hat das Netzwerk NEB nicht nur einen gemeinsamen Antrag bei der Europäischen Kommission eingereicht, sondern kann bereits Ergebnisse der ersten Arbeitsphase präsentieren. Darüber hinaus beschäftigt sich das Neue Europäische Bauhaus derzeit mit der Zukunft des ehemaligen Kinderwagenwerks ZEKIWA der Stadt Zeitz. „Ein tolles Gebiet im Zentrum der Stadt, das baulich entwickelt werden kann und soll“, so Dr. Krüger.
Zukunft der stofflichen Nutzung von Zucker
Was können der Rohstoff Zucker, die Stadt Zeitz und innovative Zusammenarbeit nun nachhaltig erreichen? Die Südzucker AG ist eine sehr viel breitere Unternehmensgruppe, als der Name vermuten lässt, sagt Dr. Sebastian Kunz. Natürlich wird hier Zucker produziert, aber beispielsweise auch Ethanol, vertreten durch die CropEnergies AG. So kann heutzutage mit dem nachhaltigen Rohstoff Zucker Treibstoff mit Ethanol vom Unternehmen hergestellt werden. Darüber hinaus kommen bereits im Bereich der Baudämmung Zuckerrübenschnitzel als natürlicher Dämmstoff zum Einsatz.
Nicht zuletzt steht derzeit die Thematik der synthetischen Grundstoffe im Fokus. Sie kamen vermehrt in Verruf, da eine Kohlenstoffbasis vermeintlich als nicht nachhaltig, sondern fossil betrachtet wurde und die Freisetzung des Kohlenstoffs in Form von CO2 sich dabei nur verzögert darstellt. „Wie können wir hier eine Art Kreislauf aufbauen, sodass wir nicht auf fossile Rohstoffe zurückgreifen müssen?“, fragt Dr. Kunz. Das Thema Recycling kann natürlich ausgeweitet werden, doch bei jedem Durchlauf gibt es eine Abnahme der Qualität. Daher mahnt Dr. Kunz:
„Wir werden nicht nur mit Recycling einen geschlossenen Kreislauf entwickeln können“
Eine Lösung kann sein, neuen Kohlenstoff aus Biomasse und CO2 zu gewinnen. Denn innerhalb der Biomasse ist CO2 bekanntermaßen gebunden. Mit diesem erneuerbaren Kohlenstoff können Kohlenstoff-Kreisläufe, ohne eine Emissionserhöhung zu verursachen, geschlossen werden. Dabei wird der Prozess der Photosynthese genutzt: Die Zuckerpflanze sammelt CO2 aus der Luft und verwendet die Sonne als Energiequelle sowie Wasser als Rohstoff. Dabei setzt sie das CO2 zu Kohlenhydraten um und somit entsteht eine nachhaltige Kohlenstoffform. Wenn daraus Materialien entstünden, die am Ende ihres Lebenszyklus verbrannt werden, werde genau dieser Kohlenstoff wieder in den Kreislauf zurückgeführt.
Die Zuckerrübe ist vergleichsweise eine außerordentlich gute agrarische Feldfrucht, da sie den höchsten Ertrag an nutzbarem Kohlenstoff aufweist. „Das können Sie gleichsetzen mit nutzbarem Kohlenstoff“, so Dr. Kunz. Außerdem ist die Zuckerrübe eine Art Nitratsenke, da sie einen Großteil des Nitrats aus dem Boden sammelt. Als Tiefwurzler lockert sie zudem den Boden auf, darüber hinaus eignet sich das Rübenblatt als natürlicher Dünger und die Zuckerrübe ist keine Wirtspflanze für Getreideschädlinge.
Gebäudehülle und Möbel aus Zucker
Auch Zucker als Baustoff ist längst keine Illusion mehr. Professor Dr. Stefan Reich zeigt Bilder eines Projekts von Kollegen des Georgia Institute of Technologie, (USA). Sie verwendeten biobasiertes Polyethylenterephthalat (PET) aus Zucker, um Kacheln für die Hülle eines Pavillons zu fertigen. Ein Experimentalbau, der zeigt: „Es lässt sich eine Gebäudehülle errichten, die zu großen Teilen aus Zucker hergestellt wird“, sagt Professor Reich. Der Weg vom Experiment zum zugelassenen Baustoff sei ein weiter Weg, der aber beschreitbar ist.
„Es ist eine Frage der Wirtschaftlichkeit.“
In den nächsten Jahren entstehen spannende Möglichkeiten in der Verfahrenstechnik, in der Produktentwicklung der chemischen Industrie, die dann im Bauwesen miteingeführt werden können. Auf die Frage, weshalb nicht sofort mit diesen neuen Materialien gebaut würde, sagt Dr. Kunz: „Wir sind heute mit nachwachsenden Rohstoffen noch sehr viel teurer als mit petrochemischen Produkten.“ Doch das Interesse an nachwachsenden Rohstoffen wächst zunehmend. Professor Reich ergänzt: Um Baustoffe auf den Markt zu bringen, bedarf es in Europa außerdem einer ausgiebigen Prüfung und Zertifizierung. Der gesamte Prozess könne einige Jahre dauern. Der pragmatische Weg sei daher der Einsatz von neuen Materialien in Sparten mit geringeren baurechtlichen Vorgaben wie Innenausbauten und Verkleidungen oder temporären Bauten.
Neu im Bereich der Dämmstoffe ist die Verwendung von Pilzmycele. Damit sind fadenförmige Zellen eines Pilzes gemeint, die als Platten oder Rohrdämmung eingesetzt werden könnten, berichtet Professor Reich. Im Kunststoffsektor kommen außerdem klassische biobasierte Kunststoffe wie Cellophan, Celluloid und Schellack zum Einsatz. Die modernen Kunststoffe sind ganz eng mit den entsprechenden Bauverfahren verbunden, insbesondere bei der additiven Fertigung, dem 3D-Druck und der Granulat Exposition – also Verfahren, die es ermöglichten, mit neuen Kunststoffmixturen zu arbeiten.
„Eine interessante Mischung, sowohl in der Zusammensetzung als auch in der Haptik, ist ein biobasiertes Polylactid (PLA)“, sagt Professor Reich. Studierende der Hochschule Anhalt haben mit diesem Material unter anderem einen Hocker, einen Stuhl und einen Tisch hergestellt. Die Erzeugung von biobasiertem PLA findet durch unterschiedliche Verfahren aus stärkehaltigen Pflanzen wie Kartoffeln, Getreide, aber auch Zucker statt. Somit können beispielsweise sogar Tragstrukturen anhand von 3D-Druck mit biobasiertem PLA aus Zucker hergestellt werden.
Suche nach grünen Lösungen
Im Zuge des nachhaltigen Strukturwandels in Sachsen-Anhalt sind auch Gas-verarbeitende Unternehmen auf der Suche nach grünen Lösungen. Als großer Gasverbraucher ist die SKW Stickstoffwerke Piesteritz GmbH von den explosionsartig steigenden Gaspreisen betroffen, erläutert Christopher Profitlich. Das Unternehmen stellt aus Gas künstlichen Harnstoff als Rohstoff her, wobei Methan zunächst in Ammoniak und anschließend in Harnstoff umgewandelt wird. Der Harnstoff kann dann für Düngemittel, aber auch als Entstickungsmittel für Verbrennungsabgase eingesetzt werden. Die flüssige Harnstofflösung „AdBlue“ wird dabei vor allem zur Abgasreduktion für Dieselmotoren von Straßen- und Schienenfahrzeugen verwendet.
„Wenn wir nicht mehr herstellen, bleiben relativ viele Räder stehen.“
Die Gaspreise explodierten seit Sommer vergangenen Jahres. Was würde passieren, wenn die SKW, beispielsweise aufgrund eines Gasboykotts, kein Düngemittel und kein „AdBlue“ mehr herstellen könnte? Profitlich: „Wenn wir nicht mehr herstellen, bleiben relativ viele Räder stehen, und es wird keinen Dünger mehr geben.“ Ohne Düngemittel würden auch langfristig keine Pflanzen mehr auf den Feldern wachsen, da diese dem Boden Nährstoffe entzögen, die mit Düngemittel wieder nachgefüllt werden müssten.
Natürlich versucht auch die SKW sich vom fossilen Gas zu lösen. Das Thema grüne Energie ist für das Unternehmen wichtig, aber die SKW benötigt vor allem Gas als Rohstoff. Deswegen werden Lösungen gesucht, um natürliches Biomethan aus organischen Prozessen oder synthetisch hergestelltes Methan verwenden zu können. Das sei aber noch eine sehr lange Perspektive.
Zeitzer Zukunft – Bau einer CO2-Leitung angedacht
In Zukunft wird auch der Chemie- und Industriepark Zeitz eine entscheidende Rolle im nachhaltigen Strukturwandel spielen, da der Standort bereits über industrielle Infrastrukturen verfügt, so der Geschäftsführer Arvid Friebe.
Ein Hauptprojekt besteht darin, eine CO2-Leitung vom Standort der Crop Energies in Zeitz zum Chemiepark zu realisieren. Damit wäre am Standort Chemiepark Zeitz grünes CO2 verfügbar. Das würde auch zum künftig verfügbaren grünen Wasserstoff in Sachsen-Anhalt passen. Er kommt aus Leuna über Pipeline zum Chemiepark, wenn die Firma Linde in Leuna den Elektrolyseur vollendet hat. Damit wären die Voraussetzungen geschaffen, am Standort Kohlenwasserstoffketten oder auch beispielsweise Benzol zu erzeugen. Wenn das noch mit einer CO2 freien Infrastruktur kombiniert würde, seien viele Voraussetzungen gegeben, um die Agenda einer grünen Chemie zu erfüllen. Zu dieser innovativen und nachhaltigen Transformation in Sachsen-Anhalt meint Friebe:
„Ich denke, da sind wir auf einem guten Weg. Wir sind am Anfang des Weges, aber das Ziel ist formuliert. Wir gehen jetzt los.“
Das Hybriden Diskussionsformat des C4 über neue Perspektiven für Zucker als Baustoff wurde live aufgezeichnet und steht als Video-Stream für Sie bereit.